Die Mutter

Vera von Steegen
Vera von Steegen

 

 

 

Meine Mutter Vera Marie Hedda von Steegen, geborene Baronesse von Stackelberg aus dem Hause Thomel, wurde in Arensburg auf Ösel (Estland)

  • am 25. September 1914 geboren.
  • Die Familie verließ Estland (1919).
  •  Heirat mit Hubertus von Steegen am 09. Oktober 1935,  Geburt zweier Töchter (1936, 1940) und eines Sohnes (1939), Witwe ab dem 25.01.1943.
  • Flucht aus Ostpreußen Mitte Januar 1945.
  • Beruf: Prokuristin.
  • Verstorben 12. Januar 1979 in Sennestadt (Nordrhein-Westfalen).

 Die Familie meiner Mutter, weit verzweigt und im Baltikum beziehungsweise in Skandinavien ansässig, ist ein altes Adelsgeschlecht. Meine Mutter wurde in Arensburg (Kuressaare) auf der Insel Ösel (Saareema) geboren, einer Stadt in Estland. Damals gehörte Estland noch zum russischen Zarenreich.

Meine Mutter hatte eine schwere Kindheit. Ihr Vater Herbert Baron von Stackelberg starb im Jahr ihrer Geburt, es war Krieg, die Witwe heirate 1920 erneut, zog nach Halle/Saale, wurde 1923 geschieden. Meine Mutter und ihr Bruder wuchsen in Wiesbaden auf, gelangten schließlich nach Berlin. Dort lernten sie den Maler Botho von Gamp kennen, der sein Atelier am Nollendorfplatz hatte und das Gut Massaunen in Ostpreußen besaß. Dort waren die Geschwister gern zu Gast, und meine Mutter lernte auf Massaunen Hubertus von Steegen kennen, der ein Vetter und Jagdfreund des Malers war. Am 10. Oktober 1935 heirateteten meine Eltern in der Dorotheenkirche in Berlin, das Hochzeitsessen fand im Hotel Kaiserhof statt. Meine Mutter war damals einundzwanzig, mein Vater siebenundzwanzig. Sie erzählte gern, dass sie mit einundzwanzig geheiratet und mit einundzwanzig zum ersten Mal Mutter geworden ist.

Es kamen glückliche Jahre in Wilknitt. Meine Mutter hatte in ihrem Turmzimmer ein zweites Radio und zweites Grammophon aufgestellt, sie traf sich dort mit ihrer Schwägerin aus Klein Steegen und anderen Freundinnen, man trällerte und pfiff Schlager, übte Tanzschritte, spielte Patiencen und Bridge. Meine Mutter war sportlich, sie schwamm gut, konnte crawlen, ritt sehr gern, hatte zwei Trakehner Reitpferde, ‚Agnes' und ‚Temeswar'. Sie liebte ihre Hunde, ging mit auf die Jagd. Ihr Stolz war ein weisser Fiat 500 A Topolino Kabrio Baujahr 1939, der ihr auch in den Kriegsjahren gute und preiswerte Dienste leistete.

Mein Vater hat über sie gesagt: 'Deine Mutter, die kennst du selbst in ihrer stillen, tapferen Größe, die nicht viel Worte macht. Sie war für mich der einzige Mensch, dem ich völlig vertrauen konnte. Solange sie lebt, bist du, mein Junge, an meiner statt verpflichtet, ihr große Dankensschuld abzutragen. Vergiss das nie'.

Er schrieb dies aus Stalingrad (5. Januar 1943), an seinem Dreijährigen, der diese Zeilen erst zwanzig Jahre später lesen durfte. Mein Vater hatte Recht. Er war im Krieg, dann ist er gefallen. Meine Mutter führte den Gutsbetrieb von 1939 bis 1945 unter Kriegsbedingungen, ohne land- und betriebswirtschaftliche Ausbildung . Es kann sich heute kaum jemand mehr vorstellen, was das bedeutete. Allein im Kriegswinter 1941/42 waren im Gut fünf Wehrmachts-Einquartierungen zu verkraften, französische Kriegsgefangene arbeiteten dort, später russische, weil die eigenen Leute Soldat geworden waren. Die Betriebsstoffe waren rationiert, geschlachtet werden durfte nur auf Antrag, NS-Leute schnüffelten hinter dieser und jenem her. Meine Mutter konnte rechnen und sparen. Sie hat nicht viel gesagt, sie hat beobachtet, Rat geholt, abgewogen, gehandelt. Sie wurde von jedermann geachtet, weil sie gerecht, vertrauenswürdig, bescheiden war. Sie wusste, was sie wollte, und mir fällt nichts Wesentliches ein, was sie nicht durchgesetzt hätte, wenn es darauf ankam - immer auf überzeugende und verbindliche Weise.

Ihre Kinder hatte sie am 15. Januar 1945 in Sicherheit bringen lassen, sie selbst hat sich erst Tage später auf die Flucht begeben, weil sie retten wollte was sie konnte. Wilknitt war unsicher in dieser Zeit des Untergangs. In den Wäldern und verlassenen Orten trieben sich Marodeure, Plünderer, Gesindel herum. Meine Mutter führte eine geladene Pistole mit, während sie mit Pferd und Schlitten zu Bahnstationen und Postämtern fuhr, als sie zu den Banken, Dienststellen, Genossenschaften ritt, deren Häuser zum Teil schon verlassen waren und deren Akten in den Fluren und Vorgärten lagen. Meine Mutter hat kaum etwas retten können, zwei Packkisten kamen durch, eine davon war aufgebrochen und wertlos, die anderen sind verschollen. Das Ölporträt ihres Mannes und die Gutskarte von 1905 wurden gerettet, sie hatte sie in Wilknitt aus dem Rahmen geschnitten und unter dem Mantel getragen, um sie zu erhalten. Sie fand die Kinder wieder, die Flucht ging über Pommern nach Wolfsburg (Niedersachsen), Vitzenburg und Allstedt (beides Sachsen Anhalt). Sie kam im Forsthaus unter, wo ihre Mutter lebte, grub in Allstedt Überlandkabel aus, die dann aufgerollt wurden und in die Sowjetunion verschwanden. 1946 ging es mit Fluchthelfer und Rucksack über die Zonengrenze nach Bad Harzburg in das Hotel 'Fürstenhof', das der oben genannte Maler Botho von Gamp gekauft hatte. Die nächste Station war Bielefeld, wo Karl-Georg, der Bruder meiner Mutter, die EMNID gegründet hatte, ein noch heute renommiertes Markt- und Meinungsforschungsinstitut.

Meine Mutter schaffte es beruflich. Sie begann als Sekretärin, arbeitete sich hoch zur Prokuristin in der Textilbranche. An ihren drei Kindern hatte sie Freude und Sorgen, hat alles für sie getan, manches ist ihr schwer gefallen. Sie hat es erreicht, ihr eigenes Haus zu bauen, und man hat sie geachtet, wohin sie kam. Sie war eine Vertrauensperson und konnte mit Geld umgehen. In der Eigentümergemeinschaft, wo sie ansässig war, hat man sie zur Vorsitzenden gemacht, weil jeder wusste, dass man sich auf sie verlassen konnte. Die Wilknitter, die Flucht und Vertreibung überlebt hatten, blieben ihr treu. Sie haben ihr geschrieben, sie haben sie besucht. Sie hat ihnen Päckchen geschickt, ihnen geholfen, ist zu Familienfeiern gefahren, auch in die DDR. Nach Ostpreußen ist sie nicht mehr gefahren, auch nicht nach Estland. Sie wollte es nicht, das hat sie deutlich gesagt.

Sie ist früh gestorben, sie war vierundsechzig.